E-MAIL, DU UND ICH
KURZROMAN -
6000 ZEICHEN -
© BY JENS KLAUSNITZER
„Mailmann (27) sucht kompatible Mailfrau zum gemeinsamen Senden und
Empfangen!", hatte Steffen Henschel in das Formular für die
Kontaktanzeige in der Rubrik „Er sucht Sie" geschrieben, dazu lediglich
noch seine E-Mail-Adresse eingetragen. Kurz und herzlos, die Details wie
fehlende Körperhöhe, sein nicht zu kaschierendes Übergewicht und die
erschreckend hohe Stirn ließen sich ja später noch eingehend erörtern.
Aufgeregt wie ein Personalchef vor dem ersten Bewerbergespräch, schnitt
er den Vordruck aus der Zeitung aus, steckte ihn mit einem
Hoffnungsseufzer in ein Kuvert und warf das Ganze verschämt in einen der
gelben Kästen in der Innenstadt. Entweder gar keine oder aber im
günstigsten Fall zwei bis drei Antworten erwartete er, als die Anzeige
in der folgenden Woche erschien. Die Frauen in der Gegend allerdings
schienen auf genau diese spartanische Anzeige gewartet zu haben! Eine
Flut von dreiundfünfzig E-Mails brach über Steffen herein und ließ ihn
abwechselnd blass und rot werden und schließlich zu einem Whisky
greifen. Nun war es also soweit: Er, der sich lange Jahre an den
Wochenenden, wenn andere in der Diskothek auf die Jagd gingen, mit einem
guten oder schlechten Buch in seiner Wohnung verschanzt hatte, war
plötzlich der Liebling aller Frauen! Welch fantastische Wandlung,
Aschenputtel Steffen war tief beeindruckt. Er wollte die Spannung noch
ein wenig halten, deshalb las er die Mails nicht gleich, sondern druckte
sie - mit klopfendem Herzen und vor Aufregung ungehörig transpirierend -
zunächst erst einmal aus. Eine Stunde harte Arbeit - er sah ja kaum hin
- dann rückte er Stühle und Tisch beiseite und verteilte seine Schätze
auf dem Fußboden. Sein Wohnzimmer glich einem Sekretariat nach einem
Wirbelsturm: Blätter, Blätter, Blätter, und kein Ende in Sicht. Steffen
selbst thronte inmitten dieser weißen Pracht und begann, seine „vor ihm
liegenden Frauen" zu begutachten. Als er nach einer weiteren Stunde den
ersten Durchgang absolviert hatte, landeten acht Zettel, bei denen er
schon fast das billige Rasierwasser irgendwelcher Spaßvögel schnuppern
konnte, im Aktenvernichter. Nach einer weiteren Runde, der interessante
Frauen über seiner persönlichen Altersgrenze zum Opfer fielen, ließ sich
Steffen eine Pizza kommen, Nummer vierzehn mit extra Käse. Irgendwann,
als es längst dunkel war und auch die härtesten Stammgäste den
Stammtisch in ihrer Stammkneipe verlassen haben mussten, lehnte sich
Steffen zurück. Es war geschafft! Vor ihm lagen elf Blätter, seine
Favoritinnen! Die Auswahl handverlesen, mit sicherem Auge hatte er auch
eine Gruppe von BWL-Studentinnen enttarnen können, die ihm die immer
gleiche Mail geschickt und dabei lediglich die Namen ausgetauscht
hatten. Zehn der elf Antworten interessierten ihn wirklich, für Nummer
elf wollte er sich lediglich eine Geschichte als passende Antwort
ausdenken. 26 Jahre, Abteilungsleiterin in einer großen Werbeagentur und
mit den Traummaßen 91-59-90 ausgestattet, prahlte sie mit fast täglichen
Besuchen im Fitnessstudio oder endlosen Fahrten in ihrem BMW-Cabrio,
nebenbei noch ihre ganz besonderen Vorzüge - schulterlanges schwarzes
Haar und von der Großmutter geerbtes Haus - erwähnend. Steffen
beschloss, die selbst ernannte Traumfrau auf den Boden der Tatsachen
zurückzuholen und ihr deutlich zu machen, dass sie mindestens einen Mann
so nicht beeindrucken konnte. In den nächsten Tagen geschah etwas sehr
Seltsames: Während der „Mailverkehr" mit seinen zehn „Auserwählten" so
vor sich hinplätscherte und teilweise ganz einschlief, entwickelte sich
Nummer elf zur täglichen Aufgabe. Und ziemlich schnell stellte Steffen
fest, dass bei den Mails dieser Andrea irgendetwas nicht ganz
zusammenpasste. Als sie ihm - für den Fall, dass er den Mut zu einem
Anruf hatte - ihre Telefonnummer mitschickte, suchte er im örtlichen
Telefonbuch. Am nächsten Tag nahm er Urlaub, griff sich seinen
Fotoapparat und fuhr in die Stadt. Er würde schon herausfinden, was mit
Andrea nicht stimmte ... Zwei Wochen später wollten sie sich - auf
Steffens Vorschlag - in einer kleinen Gaststätte am Stadtpark treffen.
Eine ganze Reihe toller Frauen erschien, mit oder ohne Mann, aber
Steffen interessierte sich nicht für sie. Er wusste, auf wen er wartete:
auf seine ganz persönliche Traumfrau! Es war zehn Minuten nach der
vereinbarten Zeit, als ihm jemand „Hallo Mailmann!" ins Ohr flüsterte.
Sie war da, Andrea, eine junge Frau mit kurzen, dunkelblonden Haaren,
blauen Augen und einem fröhlichen Lachen. Sie trug Jeans und eine
hellblaue Bluse, und sie war ziemlich nervös. Schließlich musste dieser
Steffen nach ihrer „Selbstbeschreibung" eine völlig andere erwarten.
Komischerweise schien er sich aber überhaupt nicht zu wundern, was
wiederum ihre Nervosität noch steigerte. Andrea bestellte einen Kaffee,
sah Steffen an und erklärte: „Ich glaube, ich muss erst einmal gestehen,
dass ich dich über mich ganz schön belogen habe! Wie du siehst, ist es
nichts mit schulterlangen schwarzen Haaren und den traumhaften Maßen,
ein Fitnessstudio kenne ich auch nur von außen! Wenn du mich jetzt
wegschicken würdest, könnte ich das wirklich verstehen!" Mit einem
leisen Lächeln schüttelte Steffen den Kopf. „Bleib hier! Bitte!" Er sah
sie lange an. „Du bist keine Abteilungsleiterin in einer Werbeagentur,
sondern Verkäuferin bei ‚Jim Jeans'. Du fährst kein BMW-Cabrio, sondern
einen alten Fiesta und du hast kein eigenes Haus, sondern wohnst in
einer kleinen Mietwohnung!", meinte er mit einem frechen Grinsen. Mit
offenem Mund staunte ihn Andrea an. „Du ... weißt das? Und du wolltest
dich trotzdem ... mit mir treffen?", brachte sie mühsam hervor. Steffen
schüttelte wieder den Kopf. „Nicht ‚trotzdem', sondern ‚genau
deshalb'!", stellte er trocken fest, dann gab er ihr einen ganz
vorsichtigen Kuss auf die Wange. Andrea strich sich durch die Haare und
fragte: „Was soll ich da jetzt noch sagen?" Eilig sah sich Steffen in
dem Lokal um, dann zwinkerte er ihr geheimnisvoll zu. „Wie wär's mit:
‚Herr Ober, bringen Sie uns eine Flasche Wein?' Wir haben doch etwas zu
feiern!"
SCHULD WAR NUR DER ANIMATEUR
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© BY JENS KLAUSNITZER
“Entschuldige, aber ich werde jetzt schlafen gehen! Mein Tag war nicht
besonders und der Tag morgen wird auch nicht besser werden. Ich muss mit
Werner das Projekt Bahnhofstraße aushandeln. Und Werner ist ja nicht nur
hartnäckig, sondern regelrecht stur, ich glaube nicht, dass Oehme
begeistert ist, wenn wir noch eine weitere Woche vergeuden!“ Saskia
Riegel hatte Verständnis für ihren Mann Oliver. In der Firma, in der er
arbeitete, lief es in letzter Zeit nicht besonders. Finanzielle Probleme
durch Kunden, die einfach über die gestellten Rechnungen lachten und
jede Nachfrage mit einem „Wir bekommen unser Geld auch nicht pünktlich!“
abwehrten. Außerdem zu wenig neue Aufträge, und, als ob das alles nicht
schon genug wäre, ein gesundheitlich angeschlagener Ralf Oehme, ein
Chef, der kaum eine volle Woche im Büro durchhielt. Kein Wunder, dass
Oliver ziemlich angespannt war, denn wenn die Firma wirklich in
ernsthafte Schwierigkeiten geriet, würde er so schnell nicht wieder
einen solchen Job finden. Und die Angst, irgendwann in naher Zukunft
einmal mit ganz leeren Händen dazustehen und völlig neu anfangen zu
müssen, war auch der Grund für ihre vielen kleinen Streitereien. Sie
hatten kaum Zeit füreinander! Entweder war Oliver völlig geschafft, wenn
er nach Hause kam, oder er kam gleich gar nicht, weil wieder Überstunden
notwendig waren oder sich eine Besprechung in die Länge zog. Erschien er
doch einmal pünktlich und gut gelaunt, musste Saskia garantiert für eine
ihrer Kolleginnen einspringen, die meistens ihre Migräne- oder
Grippeattacken zu den unmöglichsten Zeiten auskurieren wollten. Auch an
einen richtigen, gemeinsamen Urlaub war dadurch schon seit drei Jahren
nicht zu denken. In Olivers Firma gab es keinen Urlaubsplan, diese
„Angelegenheiten“ wurden „operativ“ entschieden. Wenn gerade einmal ein
bisschen Luft war! Weil diese kurzfristigen Termine dann natürlich nicht
zu Saskias schon im Januar geplantem Urlaub passten, endete ihr
Jahresurlaub meistens mit einem Wochenendbesuch bei Olivers Eltern.
Essen ohne Ende von Freitag bis Sonntagabend, dazu Geschichten aus den
fünfziger Jahren und unzählige kostenlose Ratschläge für ihre Ehe. Das
war nicht wirklich Entspannung! Vor dieser Zeit waren sie einmal im
Jahr in die Alpen gefahren, nur für ein paar Tage, weil sie sparen und
später ein Haus bauen wollten. Dieser Plan allerdings lag nun erst
einmal auf Eis, wenn Oliver an seinen nun sehr unsicher gewordenen Job
dachte, konnte er sich nicht auf die Suche nach einem Grundstück oder
die Auswahl eines Vordaches konzentrieren. Sie fanden nicht zueinander,
wie es immer so schön hieß, sie entfernten sich immer weiter. Saskia
merkte es jeden Tag mehr und sie litt entsetzlich darunter, sie rechnete
auch täglich damit, dass Oliver vorschlagen würde, erst einmal ein
bisschen Abstand voneinander zu gewinnen. Und sie hatte manchmal den
Eindruck, Oliver wich ihr zusätzlich aus, fürchtete wahrscheinlich die
große Aussprache. Am nächsten Morgen klingelte es an der Tür. Saskia,
die nicht auf eine Überraschung und auch nicht auf die vorzeitige
Rückkehr ihres Mannes hoffte, schaltete den Staubsauger aus, mit dem sie
vor der Spätschicht ihrer Wohnung noch etwas Gutes tun wollte. Kerstin,
ihre beste Freundin! „Hast du keine anderen Hobbys?“, erkundigte sie
sich lachend. Sie umarmte Saskia, warf ein buntes Heft, das sie hinter
ihrem Rücken versteckt hatte, auf den Tisch und ließ sich in einen der
Sessel fallen. „Ich habe eine ganz tolle Idee!“, verkündete sie
geheimnisvoll, dann tippte sie auf den Katalog, von dessen Deckel Saskia
das fett gedruckte Wort „Urlaub“ in grellem Rot entgegenschrie. „Sonne,
Strand und viele nette Leute! Der Typ im Reisebüro hat zwar eine halbe
Stunde gelabert, aber so Unrecht hat der gar nicht! So billig wie in der
Werbung ist das zwar nicht, von wegen „Super-Sonder-Sparpreis“, aber
leisten kann man sich das schon.“ Kerstin rutschte auf ihrem Sessel
nach vorn, nahm Saskia bei den Händen und flüsterte. „Was meinst du? Wir
fliegen nach Mallorca, du und ich. Nur wir beide! Keine Kerle und kein
Stress! Der Reisemensch hat das gleich mal durchgerechnet und dann habe
ich das bis morgen Abend reservieren lassen! Stell dir das mal vor: Am
Strand herumliegen und einfach nichts tun! Oder am Pool natürlich.
Quatschen und lachen, dazu ein paar wahnsinnige Getränke und ein oder
besser zwei heiße Kellner! Wahnsinn!“ Von einer Sekunde zur anderen
vergaß Saskia den Staubsauger. Mallorca, diese geheimnisvolle,
unbekannte Insel, von der alle sprachen und die sie selbst nur aus dem
Fernsehen kannte. Das war schon immer ihr großer Traum gewesen, einer,
von dem sie aber Oliver nie etwas erzählt hatte. Nur Kerstin wusste es!
„Quatsch, wir können doch nicht so einfach für eine Woche verschwinden!
Das geht doch nicht!“ Saskia vertrieb den schönen, bösen Traum. Mit
Kerstin in Urlaub fahren und Oliver allein zurücklassen? Dann wäre wohl
endgültig alles aus, sie müsste sich auch nicht wundern, wenn ihr Mann
in dieser Zeit eine andere Frau kennen lernen würde! Eine geflohene
Ehefrau und die Abende ganz allein, bessere Gründe gab es wohl nicht.
Nein, für ein paar nette Tage würde sie ihre Ehe nicht aufs Spiel
setzen, nicht in ihrer Situation! Sie hatten schon Schwierigkeiten genug
miteinander, da musste sie nicht noch neue hinzufügen! Kerstin aber
ließ nicht locker, sie kämpfte mit Argumenten, die ihr nur der Mann im
Reisebüro verraten haben konnte. „Du musst doch auch einmal an dich
denken!“, „Dein Körper braucht einmal eine Entspannungsphase!“, „Du
wirst nach diesem Urlaub ein ganz anderer Mensch sein, ausgeglichen und
fröhlich!“ und „Von diesen Erlebnissen wirst du das nächste Jahr
zehren!“ Bei einem Kaffee erklärte ihr Kerstin das Hotel, das sie sich
ausgesucht hatte, und Saskia war erstaunt darüber, was man aus einem so
winzigen Foto alles herauslesen konnte. Ein helles, weißes Zimmer mit
einem wunderschönen Bad, und einem irrsinnigen Blick aufs Meer? Wo stand
denn das? Na ja, Kerstin war mit ihrem Mann im Jahr zuvor ja auch schon
in Griechenland gewesen. Und irgendwie waren die Hotels wohl alle
ähnlich. Saskia wehrte sich noch eine Viertelstunde, dann kapitulierte
sie teilweise und versprach, mit Oliver zu reden, wenn sie ihn am Abend
sah. „Tja, gut finde ich das eigentlich nicht! Aber mit meinem Urlaub
wird es dieses Jahr wohl wieder dicke Probleme geben, da wäre es ja
vielleicht nicht schlecht, wenn wenigstens du etwas von der Zeit hast!“
Er nahm sie in die Arme. „Und wenn du mir versprichst, dass du fremden
Badehosen überhaupt nicht und fremden Geldautomaten nicht mehr als
einmal am Tag zu nahe kommst, bin ich einverstanden!“ „Auf der rechten
Seite sehen Sie schon Ihre bereitgestellte Liege am Strand!“, scherzte
der Pilot, als sie über den Norden der Insel flogen. „Genau! Die mit dem
roten Handtuch!“ Gegen achtzehn Uhr auf dem Flughafen von Palma de
Mallorca. Die beiden Beamten der „Guardia Civil“ grinsten, als Saskia
und Kerstin recht ziellos mit ihrem Kofferwagen durch die Ankunftshalle
kurvten. „Wollen wir die mal fragen, ob sie uns ins Hotel bringen?“,
lachte Kerstin und zwinkerte dem Größeren der beiden zu. „Vielleicht mit
Blaulicht!“ Sie fanden ihren Bus dann aber doch allein, sahen während
der Fahrt nur begeistert aus dem Fenster und standen schließlich an der
Rezeption des Hotels „Bahia de Mallorca“ in Alcudia. Zehn Minuten später
sahen sie vom Balkon ihres Zimmers aufs Meer. „Wahnsinn! Ist das
wirklich wahr?“, sagte Saskia kaum hörbar und beobachtete einen Surfer,
der sich am Strand mit seinem Brett abquälte. Kerstin musterte ihre
Freundin mit einem kurzen Seitenblick. „He, da draußen ist schon genug
Wasser, du musst nicht noch etwas dazugeben!“ Sie hatte die winzigen
Tränen in Saskias Augen gesehen. „Genieß es nur und freu dich! Und mach
dir keine Gedanken!“ Sie ließen ihre Koffer einfach stehen und
schlenderten eine halbe Stunde später die endlose Ladenstraße entlang.
Menschen über Menschen, Ausgelassenheit und maßlose Freude in blauen
Shorts, weißen T-Shirts oder schwarzen Minikleidern. „Wir müssen
schnellstens etwas für unsere weiße Haut tun!“, raunte ihr Kerstin zu.
„Oder besser dagegen! Dagegen aber auch wieder nicht, man hört ja so
viel von schlimmen Schäden durch die Sonne!“ Saskia verstand,
schließlich hatte auch sie den mitleidigen Blick des schokobraun
gebrannten Mannes bemerkt, der in einem über das übliche Maß gefüllten,
weißen Leibchen an ihnen vorüberlief und verlegen an seiner Bauchtasche
nestelte. An der kleinen Brücke, die in einem kurzen Hügel die Straße
über den schmalen Zulauf des Sees führte, setzten sie sich an einen der
Tische. „Sangria, was sonst?“ Kerstin bestellte und der Kellner war
zufrieden. Saskia nippte an ihrem Getränk, beobachtete die Touristen,
die in kleinen oder großen Gruppen, Händchen haltend oder mit Kindern in
ihrer Mitte, durch den Abend bummelten, und wurde plötzlich ganz still.
Tränen blitzten in ihren Augen. „Es ist sooo wunderschön hier! Schade,
dass ich ohne Oliver gefahren bin! Ich hätte das alles mit ihm erleben
können!“ „Bei deinem Oliver ist es bestimmt jetzt auch ganz schön! Der
sitzt mit einem Bier vor dem Fernseher und genießt das Abendprogramm!“
Kerstin gab dem Zahlmeister ein Zeichen, drückte ihm einen Pesetenschein
in die Hand - dabei die alte Regel mit dem Wechselgeld missachtend - und
erhob sich. „Komm! Denk doch mal an etwas anderes! An den Strand zum
Beispiel, an dem wir uns morgen so richtig brutzeln werden! Natürlich
mit Lichtschutzfaktor zwölf, für den Anfang wenigstens. Oder denk mal an
die tolle, kleine Handtasche, die ich vorhin gesehen habe! Die war
klasse, nicht so ein protziges Ding mit Goldverzierung, darauf stehe ich
nämlich überhaupt nicht. Los, das Teil holen wir jetzt, das war doch
gleich dort drüben, oder?!“ Sie schleppte Saskia im Schein der vielen
bunten Lichter zu dem kleinen Geschäft, dessen Inhaber rauchend zwischen
den Ständern mit den Fußballtrikots stand und unauffällig-auffällig
Ausschau nach möglichen Ladendieben unter seinen potenziellen Kunden
hielt. Am nächsten Morgen dachte Saskia nicht an einen herrlichen Tag
am Strand. Sie lag mit offenen Augen im Bett, starrte zur Decke und
dachte an Oliver. Und sie fühlte sich schlecht, sehr schlecht. Kerstin
brauchte mehr als eine Stunde, um sie aus dem Bett, unter die Dusche und
schließlich in den Speisesaal zu bringen. Eine weitere Stunde später
lagen die beiden Frauen am Strand, wie Kerstin versprochen hatte. Saskia
verspürte nicht die geringste Lust, wie ein kleines Kind im Wasser
herumzuplantschen, sie lag auf dem Bauch und blätterte gelangweilt in
einem Buch. „Weißt du, ich sollte bei Oliver sein und mit ihm über
unsere Zukunft reden! Und nicht allein hier am Meer herumliegen! Ich
werde nach Hause fliegen!“, kündigte Saskia an, als ihre Freundin vom
Wasser zurückkam und prustend auf ihre Liege sank. Kerstin lachte. „Du
solltest mal ein bisschen aus der Sonne gehen, denke ich! Nach Hause
fliegen! Tolle Idee, ehrlich! Oliver wird begeistert sein. Er lernt
jetzt vielleicht gerade Pudding zu kochen und ist froh, dass du mal ein
paar Tage Ruhe hast, und dann stehst du plötzlich in der Tür.“ Zum
Glück schleppte gerade ein Strandverkäufer eine schwere Holzstiege mit
Melonenhälften durch den Sand, dabei laut und immer wieder „Melonas,
Melonas, Melonas, Cocoooo!“ rufend. Saskia deutete auf eine Kokosnuss
und befürchtete - als der junge Mann mit dem Messer hantierte, dass in
den nächsten Sekunden Blut fließen werde. Es passierte nichts, aber
trotzdem war Saskia abgelenkt. „Hab ich noch nie gegessen, schmeckt aber
wirklich toll! Wie viel sind eigentlich tausend Peseten? War das
teuer?“ Für den Mann, der in knapper, leuchtend roter Badehose und mit
wallendem Brusthaar an ihren Liegen vorüberstolzierte und dessen Anblick
Kerstin dazu brachte, ihre Sonnenbrille von den Augen zu nehmen, damit
sie diesen prächtigen Burschen eingehender betrachten konnte, hatte
Saskia keinen einzigen Blick übrig. „Fantasy-Show am Abend!“,
verkündete das Plakat neben der Rezeption. Kerstin, die ihre
Luftmatratze und die Badetasche schleppte, blieb stehen. „Da müssen wir
unbedingt hin! Ich hab zwar wenig ‚Fantasy’, aber für eine ‚Show’ bin
ich immer zu haben!“ Nicht nur die Show fand Kerstin gut, sie
interessierte sich auch für einen der Animateure, der im schneeweißen
Anzug die Hotelveranstaltung moderierte. Sie sprach lange mit ihm,
erzählte hinterher von ihrem „Prinzen aus Amsterdam“. Die Hotelgäste,
die die kleine Bühne neben dem Pool belagerten, mussten aus einem großen
Stapel mit den unterschiedlichsten Bekleidungsteilen Sachen heraussuchen
und sich als für ein bestimmtes Land typischer Bewohner verkleiden.
„Wir brauche noch ein Frau!“, kündigte der Animateur an. Er ging langsam
und Unheil verkündend an den Tischen vorbei, musterte dabei die
weiblichen Gäste. Sein Blick fiel – natürlich auf Kerstin. Er reichte
ihr die Hand, entschied sich dann aber doch anders. „Nej, da ist noch
ein ander Frau!“ Saskia! Es hatte sie getroffen! Mit hochrotem Kopf
kapitulierte sie, wühlte in dem Stapel mit den alten Sachen herum und
entschied sich für einen weißen Anzug, ein grünes Hemd und einen weißen
Hut. Lackschuhe gab es extra. Ihre Aufgabe war es schließlich, einen
typisch italienischen Mann darzustellen. Und sie bediente das Klischee!
Im Vorraum des Hotels bekamen die Auserwählten den letzten kosmetischen
Feinschliff, Saskia zum Beispiel einen dünnen, schwarzen Bart, der von
einer jungen Frau mit einem Kajalstift aufgetragen wurde. Dazu reichlich
Gel in die zurückgekämmten Haare, ein wenig dunkle Farbe noch unter die
Augen, um die vermeintliche Bosheit zu unterstreichen, und fertig war
das Kunstwerk. In der Zwischenzeit hatte sich der Animateur mit ein
paar durchaus ungewöhnlichen Worten an die Gäste gewandt, nun wartete
alles auf die Rückkehr der Verkleideten. „Länder-Misch-Tanz“, der
nächste Programmpunkt und Saskia fand das Ganze zunehmend schwachsinnig.
Wenigstens bekomme ich eine Pizza, wenn auch noch die landestypischen
Gerichte zu probieren waren, tröstete sie sich. Ihr Tanzpartner war ein
dunkler und sehr falscher Inder, den sie beim Schminken gar nicht
gesehen hatte. Er zog sie an sich und Saskia überlegte ernsthaft, ihm
seinen Turban ins Gesicht zu ziehen, wenn er nicht ein bisschen ruhiger
wurde! Der Animateur-Moderator schien es besonders auf Saskia abgesehen
zu haben. Nach dem Tanz baute er sich vor ihr auf, strahlte übers ganze
Gesicht und erkundigte sich, ob Sandra denn wissen wolle, mit wem sie
getanzt hatte? Für den nächsten Tag am Pool, meinte er, für eine
eventuelle Verabredung. Nee, danke, wollte Saskia eigentlich sagen,
dann nahm sie sich aber doch zusammen. „Gern! Natürlich!“ Langsam nahm
der Pseudo-Inder den Turban ab, verlegen sein dunkel geschminktes
Gesicht abwendend. Saskia blieb die Luft weg, als sie sah, wer der Mann
ihr gegenüber war: Oliver! Sie schlug die Hände vors Gesicht, dann
umarmte und küsste sie ihn! „Was machst du denn hier?“, seufzte sie und
schloss die Augen. Der Animateur musste die Gäste gut vorbereitet
haben: Sie feierten Saskia und Oliver, wie man es sich eigentlich nur
bei einem Michael-Jackson-Konzert vorstellen konnte, mit Sprechchören
und neben den Tischen stehend. Lediglich einer hatte wohl ein gewisses
„Informationsdefizit“, er skandierte „In the pool, in the pool, in the
pool!“ und fuchtelte mit seinem leeren Bierglas herum. „Haben wir prima
eingefädelt, was?“, flüsterte Oliver. „Sven ist nämlich auch hier! Wir
sind gestern zwei Stunden nach euch geflogen. Wir tauschen nachher die
Zimmer und dann haben wir in der sechsten Etage noch dreizehn gemeinsame
Tage! Nur wir beide! Ganz allein! Ich weiß nämlich jetzt, was du für
mich empfindest! Hat mir Kerstin gestern Nacht alles erzählt, als sie
mal kurz bei uns oben war!“ Saskia sah ihrem Oliver in die Augen. „Ein
schöneres Geschenk hättest du mir nicht machen können! Im ganzen Leben
nicht! Außer vielleicht ...!“ Sie deutete auf ihren Bauch, streichelte
dann Olivers leicht entsetztes Gesicht und zog ihn an sich. „Aber dazu
haben wir ja noch viel, viel Zeit ...!“